Das Stigma Hindelbank

Ungeachtet meines sozialen und beruflichen Erfolges liess mich das Handicap, einmal im Leben in «Hindelbank» eingesessen zu haben, mein Leben lang nie mehr los. Von 2000-2002 arbeitete ich meine traumatischen Erlebnisse aus meiner Jugendzeit, brutaler Vater, sexueller Missbrauch durch den Au-Pair-Gastgeber, Freiheitsentzug und Kindeswegnahme in Begleitung therapeutischer Hilfe, in einem persönlichen Buch auf mit dem Titel: «Geboren in Zürich – Ursula Biondi».
Kurze Zeit nach der Veröffentlichung meines Buches traf mich ein Sturm der Stigmatisierung! Vor allem die darin enthaltene Schilderung des Aufenthalts in Hindelbank wurde mir zum Verhängnis. Dadurch wurde ich ein fantastisches Ablenkungsziel für Leute, die mit ihrem Leben unzufrieden waren, und auch für solche, die ihre eigenen Missetaten tarnen wollten. Da wurde mir so richtig schmerzhaft bewusst, dass, sobald der Staat durch seine willkürliche Handlungen Menschen traumatisiert und sich für seine Willkür bei den Betroffenen nicht entschuldigt hat, er quasi dem Bürger die Legitimation gibt, diese Menschen ebenfalls weiter zu traumatisieren. Ich erkannte auch, dass es im Gedankengut immer noch viele Mitläufer der damaligen Zeit gab. – Eine Altjournalistin meinte mir gegenüber gar, früher habe man die Landesverräter an die Wand gestellt. Das bereits laufende üble Mobbing war nicht mehr aufzuhalten. Der Spagat zwischen der schmerzlichen Vergangenheit in meiner Kindheit und Jugendzeit, die mich durch mein Outing aufs brutalste einholte, und dem täglichen Kampf, mich in der Gegenwart ja nicht zu isolieren, wurde für mich jahrelang zu einem Spiessrutenlauf. Mir blieb nichts mehr anderes übrig, koste was es wolle, als das hart erarbeitete Glück, die Karriere, das gesellschaftliche Ansehen etc. zu verteidigen und mich gegen das Stigma «Knasti» mit aller Kraft zu wehren, denn all dies wurde durch das üble Mobbing gefährdet.

Hin zu mehr Gerechtigkeit

Verheerend bis zur Entschuldigung der offiziellen Schweiz wurde für mich auch, dass der Staat jahrzehntelang die politische Aufklärung über den einschneidenden gesellschaftlichen Wandel vom Patriarchat zur heutigen liberalen Gesellschaft vernachlässigte, in dem sich die Bilder der Männer und Frauen stark verändert haben. Was heute als Grundrechte erscheint – die selbstverständlichen Freiheiten, die die heutigen Menschen geniessen, wie Konkubinat, uneheliche Kinder, Partnerwechsel, Abtreibungen, offen gelebte Homosexualität, mehrfacher Stellenwechsel oder ein Sabbatical etc. – all dies konnte noch vor wenigen Jahrzehnten in der Schweiz jemandem zum Verhängnis werden! Vielen der damaligen Pionieropfer, die meisten aus der Unterschicht auch Arbeiterschicht genannt, hat nur schon eine dieser erwähnten heutigen Grundrechte buchstäblich «Kopf und Kragen» gekostet. – Schmerzlich war, neben der Stigmatisierung infolge der mangelnden Aufklärung des Staates die zusätzlich immer mehr schleichende brutale Ausgrenzung in meinem grossen Bekanntenkreis. Von da an erkannte ich, dass das Stigma «Knasti» im Zusammenhang mit den administrativen Versorgungen vor 1981 unbedingt zu einer gesellschaftlichen Diskussion führen musste! Siehe meine Rede im Bundesarchiv: «Der lange Weg zur gleichen Augenhöhe».
Nach einem Jahrelangen unerbittlichen Einzelkampf, verbunden mit vielen turbulenten schmerzvollen Erlebnissen im gesellschaftlichen wie auch im privaten Bereich, bei denen man an die Grenze dessen ging, was ein Mensch ertragen kann, erreichte mein Hilferuf Ende November 2007 den «Beobachter».

Dankesmail von Annette Keller, Direktorin Justizvollzugsanstalt Hindelbank

«Administrativ versorgt? Melden Sie sich!»

Bereits anfangs 2000 hatte ich mit Pionierarbeit Beweismaterial gesammelt und Kontakt mit Marianne Heimoz, der damaligen Direktorin der Frauenstrafanstalt Hindelbank und Dr. iur. Yvo Biderbost, Adjunkt, der Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich, aufgenommen. Daraufhin folgten im November 2002 meine Buchvernissage, 2003 die ersten Artikel von freien Journalist*innen über mein Jugendschicksal, 2003 und 2004 Einladungen zu Lesungen aus meinem Buch an der Frankfurter- und Londoner Buchmesse, 2004 die Sendung bei TVStar und ein ermutigendes E-Mail vom Historiker Thomas Huonker, in dem er meinte, dass mein Kampf für Gerechtigkeit ausserordentlich wichtig sei. In den nächsten Jahren kontaktierte ich viele Personen, Medienleute etc. von denen ich mir für meine Anliegen dringendst Hilfe erhoffte. Auf mein Buch und meine dringenden Anliegen hin musste ich mir Reaktionen von kein Interesse zeigend bis zu niederschmetternden entwürdigenden Kommentaren gefallen lassen. Seltene aber umso wichtigere Lichtblicke waren Alex Sutter vom Verein Humanrights.ch, Martin Killias Professor für Strafrecht Uni Zürich, die mir das Gefühl gaben ich sei auf dem richtigen Weg, sowie Elisabeth Keller von der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen EKF, die ich Ende November 2007 dringendst um Unterstützung für mein Anliegen einer Rehabilitierung der im Frauengefängnis Hindelbank ohne Verurteilung weggesperrten Frauen bat. Frau Keller nahm mein Problem sehr ernst und empfahl mir umgehend, den «Beobachter», zu kontaktieren.

Durch die Unterstützung von Urs Becker (wir waren zusammen Vorstandsmitglieder des Vereins «MedistAargau», Mediation im Strafverfahren) kam es kurz darauf zum Kontakt mit dem damaligen Ressortleiter Daniel Benz vom «Beobachter». Daraufhin begann im März 2008 Dominique Strebel, Redaktor und Jurist des «Beobachters», gestützt auf meine Vorarbeiten mit der Veröffentlichung meines Jugendschicksals – Behördenwillkür – «Zur Erziehung ins Gefängnis», sowie mit intensiven Recherchen über dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte. Der «Beobachter» lancierte gleichzeitig einen Aufruf: «Administrativ versorgt? Melden Sie sich!» All dies bewirkte schliesslich, dass man mir das Erlebte zu glauben begann. Aber es brauchte dennoch eine Entschuldigung der offiziellen Schweiz durch Frau Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf am 10. September 2010 im Schloss Hindelbank, bis dieses üble Mobbing endlich aufhörte. – Diese offizielle Entschuldigung für die administrativ versorgten Menschen vor 1981 war für mich lebenswichtig! – Den Film dazu finden Sie hier.

Auszeichnungen

Seit Anfang 2000 kämpft Ursula Biondi für die Rehabilitation der ehemals administrativ versorgten Menschen vor 1981. Für ihr unermüdliches Engagement und auch zu Gunsten weiterer Opfer der behördlichen Versorgungspraxis vor 1981 wurde sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

Bis heute kämpft sie ununterbrochen für Gerechtigkeit.

6. September 2013: «Prix Courage 2013» des «Beobachters»

15. November 2013: Ehrendoktorat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Fribourg. Anlass zum «250 Jahre Recht in Fribourg»
Hier die Laudatio: Auf Vorschlag des Dekanatsrats hat die Fakultät den Ehrendoktortitel an Ursula Müller-Biondi verliehen, der Mitbegründerin des Vereins RAVIA (Rehabilitierung der administrativ Versorgten). Durch ihre Erlebnisberichte und ihr Engagement, setzt sie sich für die Rehabilitierung der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in der Zeit vor 1981 ein. Mit 17 Jahren wurde sie selbst in die Strafanstalt Hindelbank eingewiesen, da sie vor der Mündigkeit schwanger war. Seit 2002 zieht sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf ähnliche Schicksale von Tausenden von Menschen in der Schweiz, auf der Grundlage der Rechtsvorschriften und –verfahren, die heute unvereinbar mit der Garantie der Grundrechte erscheinen. Ihre Forderung nach einer Reflexion auf die Inhalte des Rechts, aber auch auf seine Rolle und seinen Status, stellt einen «aussergewöhnlichen juristischen Verdienst» dar.

Dezember 2013: Une rose pour Ursula Müller-Biondi – Illustré Ringier

13. Juni 2015: Verleihung des Anna-Göldi-Menschenrechtspreises

16. Oktober - 27. November 2021: Ausstellung Justizvollzugsanstalt Hindelbank
Textausschnitte auf Seite 155: Lange Zeit verschwieg Ursula Biondi ihre Geschichte und konzentrierte sich auf ihre berufliche Karriere. Sie wollte nicht zurückblicken, vorwärts, vorwärts! … Zwar gab es ab 1981 keine administrativen Versorgungen mehr, doch das Ohnmachtsgefühl blieb… Mit der Veröffentlichung ihrer Lebensgeschichte durchbrach sie das Schweigen und forderte eine Ent-Stigmatisierung der Betroffenen, eine Entschuldigung seitens der Behörden sowie eine öffentliche Diskussion über das Unrecht, das ihr und tausenden anderer Behördenopfer angetan worden war.  Für ihr Engagement wurde ihr 2013 von der Universität Freiburg die Ehrendoktorinnenwürde verliehen. «Man kann das Erlebte nicht ungeschehen machen – aber man kann dafür sorgen, dass es sich nicht wiederholt», so lautet das Motto, unter dem sie weiterkämpft: für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen. 
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