Vorgeschichte

«Im Juni 1950 kam ich in Chur im Kanton Graubünden zur Welt. Nach meinem 1. Lebensjahr wurde ich von der Pro Juventute meiner Mutter weggenommen. Meine ganze Jugend habe ich somit in Heimen und Psychiatrischen Kliniken verbracht. Es wurde mir weis gemacht, dass meine Eltern gestorben seien. Erst mit 16 Jahren, als ich im Marienheim weilte, fanden mich mein Bruder Guido und mein Cousin Gilbert, die mir dann mitteilten, dass meine Eltern noch lebten und ich drei Brüder und zwei Schwestern habe.

Das machte mich so traurig und wütend zugleich, weil ich jahrelang aufs tiefste angelogen worden war, so dass ich von diesem Zeitpunkt an aus den Heimen oder Psychiatrischen Kliniken immer wieder abhaute und Unterschlupf bei Verwandten suchte. Aber die Polizei brachte mich immer wieder in das jeweilige Heim oder in die Psychiatrische Klinik zurück. Meine Fürsorgerin der Pro Juventute hatte mich vor meiner Mutter und Verwandten immer wieder versteckt. Mit 19 Jahren, am 27. Januar 1970 – Einweisung durch das Zentralsekretariat ‹Pro Juventute›, wurde ich für die Dauer von zwei Jahren nach Hindelbank weggesperrt. Wenn ich in den Akten auf Texte wie diese stosse, wird mir heute noch schlecht.

‹Leider hat sich Esther in keiner Weise gehalten, sie bereitet(e) die grössten Schwierigkeiten und lief überall davon, von der Psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur ausgenommen›. ‹Die Versorgung des Mündels zur Arbeits- und Nacherziehung in der Anstalt Hindelbank/BE kann nun nicht mehr umgangen werden.›

Nacherziehung in einer Frauenstrafanstalt - unter Mörderinnen?

In Hindelbank waren Ohnmachtsgefühle, Verzweiflung, Wut und immer wieder diese Fragen: ‹Wieso und Warum› an der Tagesordnung. Psychologische Betreuung, Ausbildung? Nicht in meinen kühnsten Träumen gab es so was. ‹Heute frage ich mich, wie ich das verantworten konnte.› Die Aussage des damaligen Strafanstaltsdirektors Meier, erschienen im ‹Beobachter› Nr. 20/08 Seite 89 finde ich nicht nur grausam. Sie ist ein blanker Hohn! Diese erdrückende Bürde ‹Hindelbank› trage ich noch heute.

Meine Mutter starb vor 8 Monaten. Es machte mich sehr traurig, weil ich nie ein Verhältnis mit ihr hatte. Es bleiben mir noch zwei Brüder. Mit einem davon habe ich zeitweise Kontakt. Obwohl ich weiss, dass ich wegen dieser Ungerechtigkeit immer zu kämpfen habe, erleichtert es mich und ich atme richtig auf zu wissen, dass diese dunkle Schweizergeschichte endlich an die Oberfläche kommt. Ich bin überzeugt, dass bis zu den Artikeln im Beobachter Nr. 6/08 (Seiten 16-19) und 20/08 (Seiten 86-91) die Schweizer Bevölkerung ignorierte, was die damaligen Behörden mit Jugendlichen unter Nacherziehung verstanden.

Gemeinsam mit den anderen betroffenen Frauen und Männern fordere ich von den heutigen zuständigen Behörden eine moralische Wiedergutmachung für diese immense Ungerechtigkeit.»