«Ich war 17 Jahre im Guantánamo der Schweiz»

Madeleine Ischer verbrachte ihre Jugend in 16 Heimen. Weil sie sich dagegen wehrte, sperrte man sie ins Gefängnis.

Wäre es nach dem Willen der Vormundschaftsbehörden des Kantons Bern gegangen, hätte ich nie auf die Welt kommen dürfen», sagt Madeleine Ischer verbittert. In ihrer kleinen Zweizimmerwohnung erzählt die IV-Rentnerin von der Vergangenheit, immer wieder bricht sie in Tränen aus, raucht eine Zigarette nach der anderen. «Sie haben mir meine Jugend gestohlen», sagt die heute 61-Jährige. Einfach weil ihre Mutter ledig und Italienerin war. «Unser Guantánamo», nennt Madeleine Ischer diese beschämende Zeit der Schweizer Geschichte, in der ihr alles genommen wurde: das Jungsein, die Unbeschwertheit, der kleine Sohn.
 

Jugend in 16 verschiedenen Heimen

«Ich war ein Bastard von der ersten Minute meines Lebens an», sagt Madeleine Ischer. Die ersten beiden Jahre ihres Lebens wuchs sie noch als glückliches Baby bei ihrer Mutter in Bern auf, allerdings unter Vormundschaft. Eine Ledige hatte kein Elternrecht, so war das Gesetz in der Schweiz. Als das Kind zwei war, kam das Amt, holte es ab und steckte es in ein Heim – die erste von 16 Anstalten, in denen man Madeleine bis zum Alter von 20 Jahren verwahrte.

Warum? «Wir waren doch normale Leute», sagt Madeleine Ischer. Aber es gibt eine Aktennotiz der Behörden über ihre Mutter. Von «liederlichem Lebenswandel» ist die Rede. Schliesslich war sie ein «Sau-Tschingg», wie es damals hiess. «So einer» traute man alles zu.

Ihr Papa sei so liebevoll gewesen, erinnert sich Madeleine Ischer. Er habe sie sogar im Heim besucht. «Er hat gesagt, du bist meine Sisi, er fand mich so schön wie die österreichische Kaiserin.»

«Ich wurde sexuell belästigt»

Doch die kleine Tochter bleibt unter der Fuchtel der Behörden. Heim- und Anstaltsleiter machen ihr das Leben zur Hölle. «Die wollten uns brechen. Sie haben uns geschlagen und gezüchtigt, uns gegen unseren Willen Medikamente gegeben, uns sexuell belästigt und missbraucht. Wer sich wehrte, wurde erst recht schikaniert.» Als ihr geliebter Papa stirbt, darf sie zur Beerdigung – in Handschellen, wie eine Verbrecherin.

«Ich musste mein Baby weggeben»

Endlich, sie ist knapp 17, darf Madeleine vorübergehend zurück zu ihrer Mutter und beginnt eine Lehre als Verkäuferin. Sie verliebt sich in einen 20-jährigen Soldaten, wird schwanger. Für die Behörden ist der Fall klar: Abtreibung. Danach Sterilisierung. Madeleine wehrt sich wie von Sinnen und bringt 1966 in einem Mädchenheim im Kanton Appenzell einen Buben zur Welt.

Das Glück mit dem herzigen Kleinen ist kurz. «Die Fürsorgerin aus Bern hat ihn in der Tragtasche mitgenommen und im Auto wegchauffiert. Ich schrie, aber es nützte nichts.» Die vom Amt behaupten, sie habe ihn zur Adoption freigegeben. Sie hat ihren Sohn nie wiedergesehen.

Die grausame Tragik ihres Schicksals offenbarte sich Madeleine Ischer erst vor einem Jahr. Da erfuhr sie von dem Liebesbrief, den ihr der Vater ihres Buben in die Anstalt geschrieben hatte. Er wollte Madeleine heiraten! Doch ihre Peiniger hielten den Brief zurück. «So eine» durfte nicht heiraten. 1964, lange vor ihrer Schwangerschaft, hatte das Vormundschaftsamt einen Bericht über die damals 15-Jährige verfasst: «Triebhafte, leicht verstimmbare Psychopathin im Pubertätsalter mit schwerster Störung der Verhaltensweise im Sinne einer Oppositionshaltung.»

Drei Jahre im Gefängnis

Nach der Geburt versorgten die Behörden Madeleine im Frauengefängnis Hindelbank, wo sie drei Jahre lang unter Mörderinnen lebte und ohne Lohn putzen und kochen musste. «Es war Zwangsarbeit. Kost und Logis mussten wir selber bezahlen.»

Ihr halbes Leben ging vorbei, bis sie fähig war, ein bisschen normales Glück zu erleben. «Ich hatte kein Vertrauen in die Männer.» Erst vor zehn Jahren begegnete sie ihrer ersten echten Liebe. Aus einer früheren Beziehung hat sie noch einen Sohn, er schenkte ihr zwei Enkel. Bei seinem 41. Geburtstag diese Woche «hatten wir ein wunderbares Fest zusammen», erzählt sie. Irgendwann, als es richtig schön war, habe sie plötzlich an ihren anderen Sohn denken müssen. Den, den man ihr weggenommen hat. Er wäre heute 44. «Wie gern würde ich ihn einmal sehen.»

Text: Walter Hauser, Blick, Publiziert: 05.09.2010