Kindheit und Familie

«Meine Mutter war zwar katholisch getauft, aber jüdischer Abstammung. Sie hatte – wie auch meine Grossmutter - die Kriegszeit in Holland überlebt, war danach aber schwer traumatisiert. Eingeschlossen in ihre Erinnerungen betäubte sie sich täglich mit Unmengen Alkohol und Tabletten, war labil, promiskuitiv und unfähig, Mutter zu sein.

Der Vater war als Sohn eines russischen Auslandschweizers 1920 in Estland geboren und aufgewachsen, floh jedoch in die Schweiz, als 1939 das Baltikum von Russland annektiert wurde – gerade rechtzeitig, um hier in der Schweiz die RS und danach als Offizier den Aktivdienst zu absolvieren. Ihn würde man wohl heute als klassischen Borderliner beschreiben: Es gab um ihn herum keinen Menschen, der sich nicht zumindest einmal das Leben zu nehmen versuchte. Er war charismatisch, intelligent, und der interessanteste Vater der Welt, wenn er nicht gerade das Mobiliar zertrümmerte oder ziemlich sadistische Strafen erteilte. 1962 trennten sich die Eltern und ich blieb bei der Mutter.

Auf die untragbaren Zustände zuhause reagierte ich mit Fluchttendenzen. Ab dem Alter von ca. 10 Jahren verbrachte ich oft ganze Nächte allein im Wald. Ständig von Hunger geplagt, völlig überfordert mit der Sorge um die Mutter, im gemeinsamen Schlafzimmer Situationen ausgesetzt, die nicht für ein Kind bestimmt sind, waren mir die kalten Nächte dort draussen lieber als jene zuhause. Grenzenlos einsam war ich ohnehin hier wie dort.

Ab und zu griff mich die Polizei auf und verbrachte mich ins Gefängnis bis meist nach wenigen Tagen via Jugendamt oder Vormundschaftsbehörde entschieden wurde, wo ich weiter zu wohnen hatte. Wurde ich zum Vater verbracht, dauerte es nicht lange, bis der mich die Treppe herunterprügelte und ich mir, nicht willig, freiwillig zur Mutter zurück zu kehren und von ihr auch nicht willkommen, die Tage und Nächte lieber im Bahnhof oder im Wald um die Ohren schlug, und so erneut aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt wurde. Auch die Unterbringung in einer Pflegefamilie wurde erfolglos versucht, da war ich aber schon so desintegriert, dass dies in einer Schweizer Durchschnittsfamilie nicht mehr gelingen konnte.

Psychiatrische Klinik Waldau

Kriminell war ich nie, nicht einmal der Kriminalität verdächtigt wurde ich. Jeder Wohnortwechsel zog auch einen Schulwechsel nach sich. Die Lehrer beschrieben mich als intelligent, sehr nachdenklich und höflich. Ich nahm weder Drogen, noch rauchte ich oder hatte irgendwelche ‹Bubengeschichten›. Trotzdem wurde ich dann im Alter von 14 Jahren in die Psychiatrische Klinik Waldau verbracht und dort in die schlimmste Abteilung gesteckt. Es war ein Massensaal, wo ich als einziges Kind zusammen mit Geriatrie Patienten und Psychotikern eingesperrt war. Es wurden allerlei Untersuchungen und Tests mit mir angestellt, Drähte wurden mir am Kopf angeschlossen und Hirnströme aufgezeichnet, einmal wurde ich im Klinikhemd in einem Hörsaal zuvorderst auf einen Stuhl gesetzt und ein Professor hielt eine Vorlesung über mich, von der ich nichts verstand. Mitpatienten versicherten mir unisono, dass ich die Klinik nie wieder werde verlassen können. Einige versuchten bei jeder Gelegenheit, sich das Leben zu nehmen. Es gab welche, die bereits mehr als vierzig Jahre dort eingesperrt waren.

Nach einigen Wochen wurde ich aber doch wieder quasi sang- und klanglos entlassen. Den Entlassungsbericht las ich erst im Alter von mehr als dreissig Jahren: ‹Hochintelligentes Mädchen ohne Anzeichen einer Psychose. Bei guter Führung gute Zukunftsprognose.› Mein Vater erklärte sich dazu bereit, mich bis Ende 9. Schuljahr bei sich wohnen zu lassen, danach würde ich selbst für mich sorgen müssen. Der Lehrer hatte vor meiner Ankunft die Klasse vor mir gewarnt: Niemand solle mit mir Kontakt haben, denn ich käme gerade eben aus der Psychiatrischen Klinik Waldau und sei geistig gestört. Mein Vater hatte ihm und mir gesagt, ich sei schizoid.

«Ich mied Kontakt mit ‹normalen› Menschen, aber werden wie die ‹nicht normalen› Menschen wollte ich auch nicht.»
Mili

In dieser Klasse war ich bloss einige Wochen, danach hatte ich es nicht mehr ausgehalten. Den Rest des 9. Schuljahres wurde ich zu meinem Onkel nach Holland geschickt, wo ich mich zwar dank familiärer Liebe einigermassen erholen, aber weder die Schule besuchen noch bleiben konnte.

Nach meiner Rückkehr in die Schweiz versuchte ich abzutauchen. Ich arbeitete im Alter von 15 Jahren als Hilfsdachdeckerin auf dem Bau und wohnte unangemeldet in einer Abbruchliegenschaft ohne Warmwasser, Heizung und Toilette. Nebenan wohnte ein älterer Jude, ein KZ-Überlebender, der die Wohnung aus Angst vor wiederkehrendem Hunger mit längst abgelaufener Büchsennahrung vollgestopft hatte. Er und ich waren beide wohl die einsamsten Menschen in dieser Liegenschaft, die abgesehen von uns voll gestopft war mit italienischen Gastarbeitern, Drogenkonsumenten und Möchtegern-Aussteigern.

Die früher gemachten Bemerkungen seitens der involvierten Amtsstellen, ich sei weder für eine höhere Schulbildung, noch für eine Berufsausbildung, eine sportliche Karriere, eine Heirat, Freundschaft oder für eine Mutterschaft geeignet, sowie die Tatsache, dass ich mit meiner Geschichte in der Gesellschaft von ‹normalen› Leuten nicht akzeptiert wurde, hatte mich früh gelehrt, keinem Menschen zu vertrauen und nicht über mein Leben zu sprechen. Ich mied Kontakt mit ‹normalen› Menschen, aber werden wie die ‹nicht normalen› Menschen wollte ich auch nicht. In Ermangelung positiver Vorbilder waren mir Richtlinie für wichtige Entscheidungen die biblischen Gebote, obwohl ich nicht an die Existenz eines Gottes glauben konnte. Ich wollte weder Prostituierte, noch Drogenabhängige oder Kriminelle werden, das war mein vorläufiges Ziel und selbst das benötigte manche tiefe Gewissensprüfung.

Weil sowohl die Vormundschaftsbehörde, wie auch das Jugendamt und der Jugendpsychiatrische Dienst mir seit Jahren eine definitive Unterbringung in ein geschlossenes Mädchenheim angedroht hatten, und ich nach all den Gefängnisaufenthalten und dem Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik nichts mehr fürchtete als eine solche Massnahme, lebte ich ständig in der Angst, wieder aufgegriffen zu werden. Im Alter von 16 Jahren versuchte ich in die DDR zu fliehen. Dort, dachte ich, seien die Mauern hoch genug, damit nie wieder jemand aus dem Westen mich ergreifen könne. Ich fuhr mit einem Kollegen den ich kaum kannte nach Berlin in der Absicht, mich dann dort nach Ost-Berlin abzusetzen. Dass dieser Kollege ein gesuchtes Mitglied einer anarchistischen Organisation und in Brandanschläge sowie Waffenschmuggel verwickelt war, erfuhr ich erst in Berlin.

Alleine habe ich dann die Grenze nach Ost-Berlin überquert in der naiven Absicht, dort um politisches Asyl zu bitten. Dort angekommen aber empfand ich die Atmosphäre als bedrückend. Ich verbrachte den ganzen Tag lesend in einer Buchhandlung und was ich las erschien mir in Bezug auf das ‹kommunistische Paradies› so suspekt, dass ich doch wieder in den Westen zurück kehrte.

Zurück bei diesem Kollegen wurde mir der Vorschlag gemacht, Mitglied dieser terroristischen Organisation zu werden und zusammen mit anderen irgend in einem Kaufhaus eine Bombe zu legen. Ich lehnte ab, ich wollte keine unschuldigen Menschen töten, und aus Angst, ich könne die anderen bei der Polizei verraten, wurde ich einige Wochen lang in einem Zimmer eingesperrt. Mein erster Fluchtversuch endete beinahe tödlich: Eine Dum-Dum-Geschoss schlug neben meinem Bauch in die Wand ein. Der zweite Fluchtversuch gelang und ich kehrte zurück in die Schweiz, wo ich auch gleich verhaftet wurde. Ohne Anklage, ja selbst ohne diesbezügliche Verdächtigungen, verbrachte ich einige Wochen – ich kann nicht mehr sagen, wie lange das war – in Isolationshaft im Amtshaus Bern. Eines Tages hiess es, ich könne gehen. Jener Kollege von Berlin war in der Zwischenzeit nach einer wilden Schiesserei verhaftet und später ‹aus Versehen› erschossen worden.

Der ungebrochene Wille

Ich versuchte, von allem Abstand zu nehmen, versuchte, einen dicken Strich unter das alles zu ziehen und nie mehr davon zu sprechen. Ich mied Kontakt mit Eltern und Behörden. Für berufliche Bewerbungen oder für gesellschaftliche Anlässe legte ich mir einen gefälschten Lebenslauf zu. Nachdem ich eine Buchhändlerlehre nach zwei Jahren wegen Geldmangel abgebrochen hatte, arbeitete ich wieder auf dem Dach, um mir so eine weitergehende Schule zu ermöglichen. Trotzdem war es mir noch immer nicht möglich, mit ‹normalen› Leuten Kontakt zu pflegen, ich konnte nicht einmal mit solchen Leuten sprechen vor Angst. Ich war extrem misstrauisch und allein.

Im Alter von 24 Jahren gebar ich nacheinander zwei Kinder. Das Beziehungsmuster mit dem Vater derselben entsprach jenem, das ich von Kindheit an kannte und so wurde die Ehe nach sehr kurzer Zeit wieder geschieden. Ich betrieb zu der Zeit aktiv Wettkampfsport und wurde Schweizer Meisterin im Barefoot-Waterskiing. Später heiratete ich noch einmal, aus Vernunftgründen sozusagen: Wir waren beide allein mit zwei Kindern und das Eingehen einer Ehe ermöglichte erstens die Adoption meiner beiden Kinder durch den zweiten Ehemann, und zweitens konnten so seine beiden Kinder, die in einem Heim, resp. in einer Pflegefamilie aufwuchsen, wieder nach Hause kommen und zusammen mit meinen Kindern bildeten wir eine Patchwork-Familie. Weil ich mir als Mutter von noch kleinen Kindern ein Studium nicht zutraute, absolvierte ich erst eine Lehre als Hochbauzeichnerin und immatrikulierte mich an der Uni für ein Studium mit Kulturphilosophie als Hauptfach erst im Alter von vierzig Jahren.

Um es kurz zu machen: Ich habe dank grossem Willen und übermässiger Anstrengung alles erreicht, was ich gemäss der involvierten Behörden nicht hätte erreichen sollen. Fünfzehn Jahre ambulante Psychotherapie halfen mir, mit der Vergangenheit zurecht zu kommen und das Leben trotz nicht mehr therapierbarer posttraumatischer Belastungsstörungen auch geniessen zu können. Leicht war es trotzdem nie, der Preis für Willen und Anstrengungen war zu hoch, ich bin häufig krank.

Heute lebe ich als einzige Jüdin ziemlich abgelegen in einem Dorf in der Nähe von Bern und bin wiederum geschieden. Ich pflege engen Kontakt mit meinen Kindern, die alle studiert haben und gesellschaftlich integriert sind, und mit den Enkelkindern. Ich besuche regelmässig die Gottesdienste in der Synagoge und engagiere mich für gemeindeinterne und andere jüdische Belange. Häufige und längere Reisen ins Ausland helfen mir, die Schweiz – mit der ich mich nie so ganz versöhnen konnte – zu ertragen.»