Die ersten Jahre meines Lebens
Quelle: UEK Vol. 1: Gesichter der administrativen Versorgung
Ursula Biondi, geboren am 18. Dezember 1949 in Zürich, wuchs als Tochter eines italienischen Vaters und einer Schweizer Mutter auf, vielfach als «Tschingg» geschmäht. Ihr Vater, der selber eine Schweizer Mutter hatte, litt darunter, dass seine Einbürgerung sehr spät erfolgte, obwohl seine Frau Schweizerin war und er, wie seine Kinder, in der Schweiz geboren worden war. Aus Angst, den Schweizermachern negativ aufzufallen und aus einer patriarchal-autoritären Haltung heraus, zu der auch Schläge als Erziehungsmittel gehörten, führte er mit seiner Frau ein strenges Regime über die drei Töchter. Neben ihrer Vorliebe für die Musik der Beatles und von Elvis Presley erzürnte ihn an seiner mittleren Tochter Ursula insbesondere deren Freundschaft mit dem gleichaltrigen Albert – beide waren 13.
Seine Wut steigerte sich, als diese Beziehung auf Initiative der Mutter Alberts zu einem jugendanwaltschaftlichen Verweis führte. Den Verweis erteilte Jugendanwältin Dr. Elisabeth Köpfli an Ursula Biondi als der angeblich «Schuldigen» an dieser Jugendliebe, wegen angeblicher «Verführung eines Kindes». Von den staatlichen Instanzen unbehelligt blieb jedoch ein Erwachsener, der kurz darauf Ursula Biondi über längere Zeit hinweg sexuell missbrauchte. Er war Hausherr jener Familie in Monthey VS, bei der sie ihr Jahr als Au-pair-Mädchen antrat, um französisch zu lernen. Als sich Ursula Biondi auf dem Polizeiposten meldete, erstattete der Polizist keine Anzeige, sondern telefonierte dem Täter, er solle das Mädchen wieder in seinen Haushalt zurückholen. Der Hausherr bat sie auf Knien, zu schweigen, sonst sei seine Familie ruiniert, und seine Kinder müssten leiden – worauf der Missbrauch weiterging. Ursula Biondi entwickelte eine Bulimie und kehrte nach Zürich zurück. Aus Angst erzählte sie ihren Eltern nichts. Die Konflikte um Musik, Ausgang und Mode verschärften sich. Vater Biondi und seine Kinder wurden nun aber doch eingebürgert. Kurz darauf riss Ursula mit einer Kollegin nach Italien aus. Sie kamen bis Neapel. Es folgte ein Zwangsaufenthalt im Töchterheim Sonnenberg, Walzenhausen AR. Dort hatte Ursula Biondi Hausarbeit und externe Fabrikarbeit zu verrichten. Sechs Mal floh sie nach Hause und musste jedesmal wieder nach Walzenhausen zurück; beim siebten Mal ging sie nicht mehr heim. Auf Kurve lernte sie in der Hawaii-Bar im Zürcher Niederdorf den mehrere Jahre älteren Heinz kennen. Seine abenteuerliche Lebensweise imponierte der nunmehr Sechzehnjährigen; sie hoffte auf eine gemeinsame Zukunft. Dies obwohl ihr Heinz erklärte, er habe bereits ein Kind, er sei von seiner ersten Frau geschieden, es sei ihm ein dreijähriges Eheverbot auferlegt, und wegen dem in Zürich bis 1972 geltenden Konkubinatsverbot sei ihr Zusammenleben illegal.
Das Liebespaar floh nach Genua. Der Plan war, ein klandestines Leben zu führen bis zu Ursula Biondis 18. Geburtstag und dann zu heiraten. Doch Heinz heuerte auf einem Schiff an und meldete sich lange nicht mehr. Sie wurde krank und kam ins Spital. Da sie nun Schweizerin war, wurde sie nach Zürich zurückspediert, wo eine ärztliche Untersuchung ergab, dass sie schwanger war. Die Zürcher Behörden hatten schon am 11. November 1966 beschlossen, im Einverständnis und unter Kostenfolge für die Eltern, Ursula Biondi «für die Dauer von zwei Jahren in ein geeignetes, das heisst geschlossenes Erziehungsheim» einzuweisen. Dass dies die administrative Abteilung der Frauenstrafanstalt Hindelbank sein sollte, war den Eltern nicht klar.
Einstehen für die eigenen Rechte
Ursula Biondi kam am 24. April 1967 mit knapp 17 Jahren in die Strafanstalt Hindelbank. Sie war die jüngste Gefangene, hatte die Häftlingsnummer 94 und trug braune Anstaltskleidung. In täglicher Gesellschaft mit kriminellen Insassinnen (in blauer Kleidung), darunter Mörderinnen, musste sie putzen, Teppiche herstellen und Socken für die männlichen Gefängnisinsassen der Strafanstalt Thorberg BE stricken. Nachts der Einschluss in die Einzelzelle. Sie erlebte den Selbstmord einer Mitgefangenen. Die Bulimie kam zurück.
Am 11. August 1967 brachte Ursula Biondi ihren Sohn im Inselspital Bern zur Welt. Er wurde von ihr getrennt, ihre Brüste wurden abgebunden. Zurück in Hindelbank, wo sie bis am 29. April 1968 eingesperrt blieb, sollte sie dazu gebracht werden, ihren Sohn zur Adoption wegzugeben. Fünf Mal legte ihr der Zürcher Amtsvormund Dr. Fravi die Erklärung zur Einwilligung vor. Mit ihrer ganzen Lebenskraft kämpfte Ursula Biondi um ihr Kind, gleichzeitig am Rand des Selbstmords stehend. Stundenlang schreiend: «Wo ist mein Sohn?», steigerte sie sich einmal in einen regelrechten Schreikrampf, worauf ihr Direktor Meyer drei Tage Dunkelarrest verpasste. Hingegen half ihr eine Sozialleiterin von Hindelbank beim Kampf um ihr Kind. Am 29. April 1968 konnte sie zusammen mit ihrem Sohn die Strafanstalt Hindelbank verlassen. Sie musste eine behördlich zugewiesene Stelle im Kinderheim Brunnen SZ antreten. Dort erregte ihre Mutterschaft Neid. In ihrer 2002 publizierten Autobiografie heisst es: «Bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit in diesem Heim [sagte] die Heimleiterin: ‹Du hast so ein wunderschönes Baby – am liebsten würde ich es adoptieren.› [...] Ich nahm mir vor, so schnell wie irgend möglich aus diesem Heim zu verschwinden.»
Sie floh am 1. Mai nach Zürich, um den Vater ihres Sohnes zu suchen; sie hoffte ihn in seinem Stamm-Lokal, der Otter-Bar, zu finden. Dort war er aber nicht. Auf der weiteren Suche geriet sie in die damals recht militante 1. Mai-Demonstration. «Auf einmal war ich mitten in der Demo.» Es war das erste Mal, dass neben dem traditionellen 1.Mai-Umzug der Gewerkschaften in ordentlichen Reihen, mit uniformierter Blasmusik, auch eine bewegtere Nachdemo der Jungen Linken stattfand, mit Porträts von Karl Marx, Che Guevara, Rudi Dutschke und Ho Chi Minh, unter der Parole «Anerkennung Nordvietnams durch Bern». Im Archiv der Agentur Keystone finden sich Fotos der jungen Leute und ihrer Transparente. «Ich schaute besorgt meinen Sohn an; er quietschte vor Vergnügen. Anscheinend gefiel ihm dieses Chaos. [...] Wie in Trance marschierte ich mit dem demonstrierenden Menschenstrom mit, merkte kaum, dass mein Sohn schon ein rechtes Gewicht hatte und schrie mit den Demonstranten im Chor für eine bessere Zukunft.»
Da sie Heinz auch hier nicht findet, und im Bewusstsein, dass sie allein mit ihrem Sohn bald von der Polizei aufgegriffen würde, geht sie zu ihren Eltern. Diese haben unterdessen ihr Vertrauen in die Behörden verloren. Die Mutter schützt sie diesmal vor Amtsvormund Fravi, der noch am selben Tag an der Tür der elterlichen Wohnung klingelt. «Sie schreit ihn an, dass er mitverantwortlich sei für all dieses Leid, dass ihre Tochter in einem Gefängnis gelandet sei [...] – er solle sofort aus unserem Leben verschwinden [...]. An diesem Tag, am 1. Mai 1968, um 17.00 Uhr, 18 1⁄4 Jahre alt, hatte ich endlich meine Freiheit gewonnen.»
Auswirkungen auf den Alltag
Heinz bleibt verschwunden. Ursula Biondi arbeitet als Angestellte im Tea-Room «Rialto». Dort verkehren die Fussballer des FCZ, der in diesem Jahr Schweizer Meister wird. Einer der Fussballstars wirbt um sie, doch sie weist ihn ab, als sie erfährt, dass er bereits verheiratet ist und ein Kind hat.
Erfolgreicher ist der Programmierer Robert. Mit dem Einverständnis ihrer Eltern zieht sie zu ihm nach Genf. Durch ihn findet sie den Einstieg in eine berufliche Zukunftsperspektive ohne Tradition und gesellschaftliche Hürden. Sie reisen viel. Als Heinz wieder auftaucht und Ursula Biondi nun, da sein Eheverbot abgelaufen ist, heiraten will, kommt sie nicht darüber hinweg, dass er sie und ihren gemeinsamen Sohn im Stich gelassen hatte. Trotz einem Rest romantischer Liebe weist sie Heinz ab; Jahrzehnte später erfuhr sie, dass er im Jahr 1993 umgekommen war.
Auch die Beziehung zu Robert endet. 1975 heiratet Ursula Biondi den Genfer Rennfahrer Florian und bekommt mit ihm eine Tochter. Das Paar führt einen von Sport und Freizügigkeit, auch in sexueller Hinsicht, geprägten Lebensstil, wie er in den 1970er Jahren möglich wurde. «Wofür eine junge Frau einige Jahre zuvor noch mit der Arbeitserziehungsanstalt Hindelbank rechnen musste, gehörte jetzt fast zum guten Ton.»
Sie macht ebenfalls eine Rennfahrer-Lizenz, geniesst Bungee-Jumping und River- Rafting auf dem Sambesi, lernt Rock 'n' Roll tanzen und Pistolenschiessen. Ihre EDV-Karriere geht weiter, nun beim International Labour Office (ILO) in Genf. In der menschenrechtlich geprägten internationalen Institution steigt sie zum Chief Office Trainer on Micro-Computer auf. Wohl konnte sie durch diese berufliche Karriere, wie vorher schon durch die Abenteuer an der Seite des Rennfahrers, viele Ängste überwinden. Aber die Traumatisierung durch die Einsperrung in Hindelbank hatte bleibende Folgen. «Die Vergangenheit holte mich immer wieder ein. Sobald ich mich in einem engen Raum befand, der vielleicht noch vergitterte Fenster hatte, bekam ich Schweissausbrüche und Atemnot. [...] Ich war nicht imstande, Aufzüge in Hochhäusern zu benutzen; stattdessen stieg ich die Treppen bis zum 20. Stockwerk zu Fuss hinauf und langte schweissgebadet oben an.»
Sie trennt sich auch von Florian, dessen zahlreiche Vorhaben und Unternehmungen sie oft auseinander führten, bleibt aber mit dem Vater ihrer Tochter freundschaftlich verbunden. Als sie 42-jährig ist, 1992, tritt ein neuer Mann in ihr Leben. «In dieser Zeit lernte ich bei einem Bridge-Turnier in Crans-Montana Alfred aus Zürich kennen. Er war Rechtsanwalt und Richter.» Und er «ist der erste Mann in meinem Leben, der mein Jugendtrauma ernst genommen hat. [...] Er stand zu mir während meiner ‹Aufarbeitung.› [...] Ich bin ihm sehr dankbar dafür.» Durch ihn kam sie zurück nach Zürich. Es war atmosphärisch nicht mehr der Ort, aus dem sie nach Hindelbank weggesperrt worden war: «Die Menschen hier [...] lächeln leichter, ich empfinde sie als farbiger. Es erfrischt mich, den jüngeren und jungen Generationen zuzusehen, wie sie die neue Freiheit ausleben (Mode, Musik, Reisen) [...]. Ich sehe, dass ich manches davon in meiner eigenen Jugend vorweggenommen habe; offensichtlich war ich auf dem richtigen Weg.» Ursula Müller-Biondi setzt ihre Berufstätigkeit durch Erteilen von EDV-Kursen in drei Sprachen fort und erwirbt zusätzlich ein Diplom als Ernährungsberaterin.
In der Öffentlichkeit wahrgenommen
Im Jahr 2002, publiziert sie ihre Autobiografie «Geboren in Zürich – eine Lebensgeschichte». 15 schweizerische Verlage lehnten die Publikation ab.
Die Veröffentlichung ihrer Lebensgeschichte fällt in eine Zeit, in der die Schweiz, nach der erneuten und vertieften Aufarbeitung ihrer Flüchtlings- und Finanzpolitik während des Zweiten Weltkriegs durch die Bergier-Kommission auch andere dunkle Punkte ihrer Geschichte selbstkritisch ausleuchtet. Das Schweizer Fernsehen zeigte um 2000 eine Reihe von Filmen zur Geschichte der Verdingkinder, ab 2004 nahm ein wissenschaftliches Projekt Interviews mit rund 270 ehemaligen Verding- und Heimkindern zu ihrer Lebensgeschichte auf. Es erschienen kritische Darstellungen zu Psychiatriegeschichte, Zwangsssterilisationen, Zwangsadoptionen, Anstaltseinweisungen und anderen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Immer mehr Menschen, die in Heimen und Erziehungsanstalten aufwuchsen, meldeten sich zu Wort und veröffentlichten ihre Lebensgeschichten, meist im Selbstverlag.
Wichtig war auch, dass Kurt Aeschbacher Ursula Müller-Biondi am 23. Oktober 2008 in seine Fernsehsendung einlud. Gleichfalls Betroffene meldeten sich bei ihr. Aus diesem Personenkreis, von denen Dominique Strebel einige in seinem 2010 erscheinenden Buch «Weggesperrt – Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen» porträtierte, scharte sie Mitbetroffene um sich, welche sich vorerst in einer Interessengemeinschaft und schliesslich im Verein RAVIA organisierten; das Namenskürzel ist aus «Rehabilitation administrativ Versorgter/internés administratifs» abgeleitet. Dass dieser Verein im Jahr 2014 tatsächlich die gesetzliche Rehabilitation der administrativ Internierten erreicht hat, ist eine jener gesellschaftspolitischen Wendungen, die von der historischen Bedeutung der Handlungen Einzelner oder kleiner Gruppen zeugen, darunter, in seltenen Fällen, von solchen, die nicht vernetzt in Machtzentren agieren, sondern Machtzentren von aussen her, als Aussenseiter, zu beinflussen vermögen. Diese spezielle Erfolgsgeschichte erzählt Ursula Müller-Biondi im lebensgeschichtlichen Interview, das sie der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) gab. Die dokumentarischen Belege – unzählige Briefe, Mails, Telefon und Aktennotizen, Sitzungsprotokolle usw. – übergab sie in mehreren Ordnern ebenfalls der UEK. So ist dieser unwahrscheinliche, aber reale Vorgang gut belegt.
Bei diesem Haupterfolg ihrer Aktivitäten zur Rehabilitation der ehemaligen Administrativhäftlinge, dem Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen vom 21. März 2014, das auch die gesetzliche Grundlage der UEK ist, waren der Kontakt zum St. Galler National- und Ständerat (SP), Gewerkschaftspräsident Paul Rechsteiner, und dessen politische Durchsetzungskraft zentral. Rechsteiner hatte früher schon die Rehabilitation des ehemaligen St. Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger, der anderen Flüchtlingshelfer im Zweiten Weltkrieg sowie der antifaschistischen Kämpfer für die spanische Republik durchgesetzt. Denn auch diese waren, wie die administrativ Versorgten, aufgrund von Gesetzen und Verfahren inhaftiert worden, die aus heutiger und, je nach Haltung und Optik, auch schon aus damaliger kritischer Sicht, Unrecht in Form von Recht bewirkten.
Offizielle Entschuldigungen
Zur Kontaktaufnahme mit Paul Rechsteiner riet ihr Prof. Dr. Felix Schöbi, heute Bundesrichter, an einer Sitzung von Beamten des Bundesamtes für Justiz mit Ursula Biondi und einer anderen Betroffenen am 2. Juli 2009. Das war einerseits ein hilfreicher Hinweis. Andererseits war es für die beiden Betroffenen niederschmetternd zu hören, dass das Bundesamt für Justiz damals bezüglich Rehabilitation selber nicht aktiv werden wollte. An dieser Sitzung hiess es dort noch, nicht der Bund, sondern Gemeinden und Kantone seien zuständig. Vorgängig wichtig war auch die Bereitschaft von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, jene Geste zu vollziehen, die sie gegenüber den ehemaligen Verdingkindern am 25. März 2009 in der Heiliggeistkirche Bern noch nicht zeigte, nämlich eine öffentliche Entschuldigung. Zu dieser kam es dann am 10. September 2010 vor dem Frauengefängnis Hindelbank. Dabei entschuldigten sich neben der Bundesrätin auch verschiedene kantonale Instanzen. Und es kamen auch ehemalige Administrativhäftlinge zu Wort. So auch Ursula Müller-Biondi. In ihrem Votum am medial verbreiteten Entschuldigungs-Event schilderte sie den Weg, den sie gehen musste, bis sie endlich Gehör fand:
«Vor acht Jahren habe ich aus therapeutischen Gründen, um mich von meinen Traumata zu befreien, ein Buch über das, was ich in meiner Jugend erlitten habe, geschrieben. Ich musste jedoch feststellen, dass man mir die damalige Behördenwillkür einfach nicht glauben wollte. Es durfte nicht wahr sein, dass es in der Schweiz möglich gewesen ist, Menschen ohne begangene Straftat und ohne Verurteilung mit schweren Straftäterinnen zusammenzusperren.»
Sie erwähnte, was viele Staatsopfer schon vor ihr erlebt hatten, nämlich dass es unter allen Medien zuerst der «Beobachter» war, der Öffentlichkeit für deren Anliegen herstellte:
«Nachdem ich von den Medien viele Zurückweisungen erfahren hatte, ging mein letzter Hilferuf Anfang 2008 an den ‹Beobachter›. Glücklicherweise nahm Herr Dominique Strebel meine Geschichte ernst. Er stellte Recherchen an, veröffentlichte meine Geschichte und rief andere von der damaligen Behördenwillkür Betroffene auf, sich zu melden. Von da an kam das Ganze ins Rollen.»
Die ehemals administrativ Versorgte betonte in ihrem Votum den prinzipiellen juristischen Fehler der menschen- und grundrechtswidrigen administrativen Internierungen:
«Als administrativ Versorgte konnten wir uns im Gegensatz zu Kriminellen nicht einmal vor Gericht rechtfertigen, vielmehr waren wir den Behörden schutzlos ausgeliefert.»
Ursula Müller-Biondi fügte bei:
«Wir tragen das Stigma, im Gefängnis gewesen zu sein, ‹gesessen› zu haben. Wir waren jedoch nie straffällig. Das hat uns für unser ganzes Leben gezeichnet. Wir fordern heute eine ‹Entstigmatisierung›, weshalb eine Entschuldigung in der Öffentlichkeit unumgänglich ist.»
In ihrer Entschuldigungsrede wandte sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf direkt an die anwesenden Opfer administrativer Versorgung:
«Sie sind ohne gerichtliches Urteil zur Erziehung in eine Strafanstalt verbracht worden, sind weggesperrt worden. Dies, obwohl Sie keine Straftat begangen haben, die eine solche Massnahme gerechtfertigt hätte.»
Weiter sagte die Bundesrätin zu den anwesenden Opfern administrativer Versorgung:
«Sie wurden zurückgesetzt; Ihnen wurde Leid angetan, körperliches und ganz besonders auch seelisches; Ihnen fehlte Geborgenheit und Liebe und wohl auch das notwendige Grundvertrauen, das im Leben so wichtig ist. Diese einschneidende Erfahrung hat Ihr Leben geprägt. An Ihrem Schicksal sind Sie nicht selber schuld.» Dann präsentierte Eveline Widmer-Schlumpf ihre Entschuldigung gegenüber den administrativ Internierten:
«Ihre Geschichte lehrt uns, dass es Situationen gibt, in denen man fähig sein muss, einen Schritt nach vorne zu machen und zu versuchen, einen Teil der Vergangenheit wieder gut zu machen. Normalerweise entschuldigt man sich im privaten Rahmen. Manchmal ist es jedoch erforderlich, das im öffentlichen Rahmen zu tun. Sehr geehrte Damen und Herren, dies möchte ich heute an dieser Stelle machen.»
Am 11. April 2013 folgte die Entschuldigung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, wiederum zusammen mit Vertretern anderer heutiger Repräsentanten ehemaliger Täterkreise, diesmal auch der Kirchen und des Bauernverbands, im Kulturkasino Bern, nun gegenüber allen Opfern fürsorgerischer Zwangssmassnahmen. Im kurz darauf ebenfalls federführend von Bundesrätin Sommaruga eingerichteten Runden Tisch für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen vor 1981 vertritt Ursula Müller-Biondi die ehemals administrativ Internierten.
Publikumspreis Prix Courage
Im September 2013 erhielt Ursula Müller-Biondi, zusammen mit Bernadette Gächter, Jean-Louis Claude und Walter Emmisberger, den Prix Courage des Beobachters. Am 15. November 2013 verlieh ihr die juristische Fakultät der Universität Fribourg den Doktortitel ehrenhalber und am 13. Juni 2015 erhielt sie den Anna-Göldi-Menschenrechtspreis im Gedenken an die 1782 in Glarus als angebliche Hexe verurteilte und hingerichtete ehemalige Dienstmagd des Glarner Richters Johann Jakob Tschudi.
Sie war auch Mitglied des Initiativkomitees der von Guido Fluri lancierten Initiative, die Zahlungen im Betrag von 500 Millionen Franken für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen vor 1981 forderte und die am 19. Dezember 2014 nach kurzer Sammelzeit mit über 110'000 Unterschriften eingereicht wurde. Unermüdlich gab und gibt sie vielen in- und ausländischen Medien Interviews in drei Sprachen (Deutsch, Französisch, Englisch) zur Thematik der Administrativhäftlinge, nimmt an Tagungen teil, hält Referate und aktualisiert ihre Websiten www.administrativ-versorgte.ch. Diese dokumentiert neben ihrer eigenen Biografie auch die Lebensgeschichten weiterer Mitbetroffener.
Beim Schweizerischen Städte- und Gemeindeverband hielt sie am 28. April 2014 ihren Vortrag «Kann Unrecht gut gemacht werden?» und formulierte: «Zum Begriff administrativ Versorgte: Das sind Hüllwörter, hinter denen sich das tatsächliche Verbrechen zu verstecken sucht, für die Allgemeinheit schwer verständlich und somit schnell vergesslich. Man kann sich fragen, ob dies bewusst von den Verantwortlichen mit banalen Begriffen so gehandhabt worden ist, damit kein grosses Interesse aufkommt. Hinter dem Begriff ‹administrativ Versorgte› steht eine 100% grausame Behördenwillkür. Er bedeutet aufgezwungene Schicksale. ‹Recht› wurde gebraucht, um Unrecht zu tun. Frühere Staatsangestellte (Anstalts- und Gefängnisleiter) und Vormünder haben viele Leben beeinträchtigt und zerstört. Im Allgemeinen wurden die Menschenrechte verletzt und den Betroffenen während ihrer Einschlusszeit Bildung verweigert, wodurch sie wertvolle Jahre verloren. [...] Die schrecklichen Erlebnisse in den Anstalten/Gefängnissen, die Isolation sowie die Entlassung ohne Resozialisierung führten zu Fehlanpassungen in der Gesellschaft und hatten massive Beeinträchtigungen der Lebenschancen und Entwicklungspotentiale der Betroffenen zur Folge. [...] Viele Betroffene leiden bis heute an den Spätfolgen, schlechten beruflichen Chancen, psychischen Traumatisierungen und Stigmatisierungen.»
Einige der psychischen Folgen der Traumatisierung schilderte sie so:
«Die Betroffenen leiden oft unter alternierendem und andauerndem unruhigem bis panikartigem Gemütszustand und fühlen sich wie unter negativem Strom. Nach dem inneren emotionalen Sturm folgt danach vielmals ein Gefühlszustand, der von den Betroffenen als Coeur brisé, gebrochenes Herz, empfunden wird. Dieser Gemütszustand ist zum Teil so verheerend, dass die Betroffenen oft tagelang nicht mehr daraus herauskommen und sich schlussendlich das Leben nehmen, weil sie nicht mehr mögen, ausgebrannt sind und keinen andern Ausweg mehr sehen.» Sie nannte «Beispiele von unzähligen ‹Triggern›, mit denen die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen fast täglich zu kämpfen haben, denn diese Seelenminen lauern überall und können jederzeit explodieren: [...]
- plötzlich grelles Licht erinnert an das morgendliche automatische einsetzende grelle Licht in der Zelle; plötzlicher Lichtausfall erinnert an den Bunker;
- [...] an meinem Wohnort trägt das Haus gegenüber die Hausnummer Nr. 94. Ich werde somit tagtäglich an meine Hindelbanknummer erinnert
- [...] widerhallende Korridore mit Echos erinnern an die langen Zellengänge;
- [...] Betroffene durchlaufen immer wieder traumatisierende Stadien, bis sie mit 'Triggern' einigermassen [...] umgehen können.»
Dieser psychischen Belastung zum Trotz begleitet Ursula Müller-Biondi die UEK, zu deren Entstehung sie massgeblich beitrug, in der aber, im Unterschied zum Runden Tisch, keine Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen Einsitz haben, sehr aktiv. Sie schreibt, wie auch andere Betroffene, immer wieder Mails und Briefe an die UEK, die an die Forschenden weitergeleitet werden. An den Austauschanlässen der UEK oder auch anderer wissenschaftlicher Aufarbeitungsprojekte, zu denen Betroffene eingeladen sind, diskutiert sie pointiert. Sie sagt immer wieder, und das ist ernst zu nehmen: «Falls diese Expertenkommission einen Bericht abliefert, mit dem wir Betroffenen nicht zufrieden sind, werden wir einen Gegenbericht schreiben.»