Vorgeschichte

«Als Kind wurde ich viel geschlagen, manchmal so, dass ich nicht mehr recht sitzen konnte, weil mir das Gesäss so weh tat und ich blaue Striemen hatte. Ich war auch Bettnässerin und alle Leute haben es gesehen, weil meine Mutter die nasse Matratze und Leintücher aus dem Fenster hängte. Wenn ich von der Schule heimkam, rieb sie mir sogar das Leintuch im Gesicht, um mich so noch zusätzlich zu bestrafen. Mit 13 Jahren hat es dann aufgehört, da ich die Regel bekam, doch geschlagen wurde ich immer wieder.

Auch als ich 20 Jahre alt war, schlug man mich immer noch.

Ich kündigte meine Stelle in der Firma, worauf meine Mutter zum Fürsorgeamt ging und man mich in ein Mädchenheim im Kanton St. Gallen steckte, wo ich ein Jahr in einer Spinnerei arbeiten musste. Ich erhielt nur ein kleines Taschengeld, das musste reichen. Nach einem Jahr wollte in einem Restaurant als Serviertochter arbeiten, doch es kam anders. Man hatte mir eine Stelle in einem Altersheim gesucht, wo ich dann eine Zeit lang blieb, bis ich total überfordert davon lief. Es war für mich schrecklich, immer wieder unter Nonnen zu sein. Ich ging dann nach Schaffhausen, wo ich in einem Restaurant eine Service-Lehre anfing. Das gefiel mir sehr und endlich fühlte ich mich frei. Dort lernte ich meinen Freund kennen, mit dem ich mich sogar verlobte. Ich war damals sehr glücklich. Wir zogen dann nach Zürich, wo ich wieder in einem Restaurant arbeitete. Das Hochzeitkleid hatte ich schon bestellt, weil wir heiraten wollten, doch es kam anders. Meine Rechnungen wurden nicht mehr bezahlt und ich hatte Schulden. Als ich meinen Freund zur Rede stellte, lachte er nur. Ich wusste damals noch nicht, dass ich ­– mit 23 Jahren – schwanger war. Meine Eltern entschieden sich aber ohne mich zu fragen, mir einen Vormund zu geben. Damit fing mein trauriges Leben wieder an. Wie es der Zufall wollte, erwischte ich meinen Verlobten mit einer anderen Frau im Bett, als ich im dritten Monat schwanger war. Ich sagte es ihm, aber er glaubte mir nicht. Er wollte mich gar erschiessen, angeblich weil es seine neue Freundin verlangte. Ich sagte, dann tue es doch, dann hast du zwei Menschen auf dem Gewissen. Die Verlobung löste ich dann auf. Im vierten Monat bekam ich Schmerzen, worauf der Arzt sagte, es sei nicht gut, wenn ich so hart arbeiten müsste. Ich kam dann in ein Heim für ledige Mütter im Welschland, das auch wieder von Klosterfrauen geführt wurde. Sie nannten sich Seraphische Liebeswerke. Es ging mir gut, bis eines Tages die Schmerzen zurück kamen und ich viel liegen musste, da ich ein wenig Fruchtwasser verlor. Nachdem es mir zwischendurch wieder etwas besser ging, hatte ich wieder neue Schmerzen und musste viel liegen bis zur Geburt.

In der Zwischenzeit kam mein Vater zu mir und ich bat ihn: ‹Bitte nimm mich nach Hause.› Er aber wollte das nicht, weil sonst die Mutter davon gelaufen wäre, wenn er mich heimgebracht hätte. Ich musste ins Spital verlegt werden, weil ich eine Steisslage hatte. An einem Sonntag gebar ich dann meinen Sohn und es war ein wunderschönes Gefühl, mein Kind in den Armen zu halten. Als meine Mutter mich besuchte, fragte ich nochmals: ‹Nimm mich bitte heim.› Sie sagte nein. Ich musste mit meinem Kind wieder ins Heim zurück. Ich stillte es, liebte es, es machte mich so unendlich glücklich. Ich musste dann nach Solothurn, wo ich im Antoniushaus arbeitete. Dort wurde ich sehr krank und musste nach Davos zur Kur (bis heute musste ich über 30-mal operiert werden).

Jeden Tag telefonierte ich und fragte verzweifelt nach meinem Kind.

Es hiess jedes Mal, dass es ihm gut gehe, bis ich erfuhr, dass mein Kind nicht mehr dort war. Ich wollte nicht mehr leben, denn man hatte mir – damals war ich 24 Jahre alt – mein Kind weggenommen. Ich musste weiter in Solothurn arbeiten. Eines Tages durfte ich dann zu meinem Kind, ins Luzernische, wo es bei einer Familie war. Am liebsten hätte ich mein Kind gepackt und wäre davon gelaufen, aber ich wurde streng beobachtet. Zurück in Solothurn wurde ich wieder krank und man sagte mir, es wäre wegen meiner Lunge besser für mich, an einem höher gelegenen Ort zu arbeiten. Ich kam dann zur Arbeit in eine Kinderklinik, wo es mir einigermassen gefiel, aber auch diese wurde wieder von Nonnen geführt. Immer wieder hatte ich grosse Sehnsucht nach meinem Kind. Ich lernte einen Italiener kennen, der mich nach Italien mitnehmen wollte. Ich aber wollte das nicht, weil ich einen anderen Plan hatte. Eines Tages packte ich meine Koffer und wollte weg, doch die Polizei griff mich beim Frauenarzt auf und brachte mich im Auftrag meines Vormundes in ein Bezirksgefängnis im Kanton Zürich, in dem ich 10 Tage mit gleichen Kleidern eingesperrt wurde. Auf der Fahrt ins Unterland überfuhren sie sogar ein Einhörnchen und ich schimpfte mit ihnen. Ich wollte ja nur zu meinem Kind, nicht nach Italien. Dies hatte ich nur gesagt, um eine andere Spur zu legen, doch sie wollten es nicht glauben. Schon früher bin ich einen Mann begegnet, der aber viel älter war als ich, und wir trafen einander wieder. Er fragte mich dann eines Tages, ob ich ihn heiraten wollte, und ich sagte ja. Ich wollte von der Vormundschaftsbehörde frei kommen und das ging nur durch Heirat. Ich sagte ihm, dass ich mein Kind wolle, doch hinter meinem Rücken ging er zu dieser Pflegefamilie und sagte, dass er dieses Kind nicht wolle, was ich erst viele Jahre später erfuhr.

Mein Vormund verlangte von mir eine Unterschrift, damit auf mein Kind verzichtete, nur dann lasse er mich heiraten. Drei Tage lang weinte ich und wusste nicht, was ich tun sollte, denn ich liebte mein Kind und vermisste es so sehr. Ich wollte aber nur noch frei sein von der Vormundschaft, weshalb ich dann schweren Herzens unterschrieb und somit mein Kind zur Adoption frei gab. Jetzt konnte ich heiraten war endlich frei. Ich bekam noch zwei Kinder, die mich sehr glücklich machten, aber meinen Sohn vergass ich nie. Alle Jahre zu seinem Geburtstag bekam er ein Nötchen, damit er mich nicht vergass.

Meine Ehe ging in die Brüche, da ich mich wieder eingeengt fühlte. Als mein Mann pensioniert wurde, durfte ich auch nicht mehr alleine ausgehen mit meinen Kusinen. Meine beide Kinder sind heute alles für mich, haben mich zum 9fachen Grosi gemacht und bald bin ich Urgrosi. Darauf freue ich mich sehr, denn ich liebe sie alle. Mein Sohn ist auch Vater, aber ich sehe ihn kaum und das tut sehr weh.

Ich frage mich manchmal, was wurde meinem Kind erzählt, dass er sich nicht blicken lässt und mir ausweicht? Er weiss doch, wie sehr ich ihn auch lieb habe und ihn nie weggeben wollte. Seit mehr als 18 Jahren lebe ich nun mit meinem Lebenspartner zusammen, der mich versteht und mit dem ich mich auch glücklich fühle.

Aber die immense Sehnsucht nach meinem Sohn ist und bleibt sehr schmerzhaft. Er ist Götti eines meiner Enkel und manchmal ganz in der Nähe. Es tut sehr weh, wenn ich es erfahre. Ich hoffe, dass es eines Tages vielleicht so weit sein wird und ich meinen Sohn in die Arme schliessen kann. Denn diese Hoffnung gebe ich nie auf!

Die schlimmste Zeit für mich war der Zelleneinschluss, es bleibt ein schwarzer Fleck auf meiner Brust. Auch kommen in mir immer wieder die verzweifelten Fragen auf: Warum halfen die damaligen Behörden den jungen ledigen Müttern nicht für eine Lösung, sondern bestraften sie, indem sie ihnen die Kindern entweder wegnahmen oder die Adoption aufschwatzten, bis sie verzweifelt unterschrieben? Für viele hält diese Strafe ein Leben lang an. ‹Warum diese Sinnlosigkeit!?› Ich schliesse mich den betroffenen Frauen und Männern an und fordere von den heutigen zuständigen Behörden eine moralische Wiedergutmachung für diese immense Ungerechtigkeit.»